Die 4 existentielle Wahrheiten

Persönlichkeitsentwicklung bedeutet, jeden Tag auf verschiedenen Ebenen zu wachsen. Sie lässt sich vergleichen mit einem regelmäßigen Software-Update, das kleine Fehler und Schwächen behebt und neue, hilfreiche Funktionen zur Verfügung stellt. Die Entwicklung der Persönlichkeit beginnt am ersten Tag unseres Lebens und endet erst mit dem Tod. Wenn wir die menschliche Natur verstehen wollen, müssen wir uns zuerst die vier existentiellen Wahrheiten in Erinnerung rufen und uns einen angemessenen Umgang mit ihnen überlegen.

1. Die existentielle Angst akzeptieren: Die Urangst des Menschen, seine Existenz zu verlieren, bringt ihn in unserer Gesellschaft dazu, möglichst viel Geld zu verdienen, materielle Dinge anzuhäufen, um ein möglichst hohes Ansehen zu kämpfen und sich gegen alle möglichen Unwägbarkeiten und «Katastrophen» abzusichern. Existentielle Angst ist etwas Natürliches. Es ist von Vorteil, sie in der Psychotherapie nicht als pathologisches Merkmal, sondern als normale menschliche Eigenschaft anzuschauen. Diese Herangehensweise unterstützt die Klienten bei der Akzeptanz ihrer selbst und hilft ihnen, ihre Existenz gelassener anzunehmen.

2. Fixierungen hinterfragen und auflösen: Um eine Identität bilden und sich selber als kontinuierliches Wesen empfinden zu können, benötigt der Mensch Fixpunkte, auf die er sich beziehen kann. Man kann sich auf Menschen fixieren, auf bestimmte alltägliche Abläufe, Handlungen oder Meinungen. Fixierungen sind notwendig für die Erkennung unserer Individualität, doch gleichzeitig limitieren sie unsere Wahrnehmung und damit unser Lebensspektrum. Es ist essentiell, diese Kontroverse zu verstehen: Fixierung gibt Halt und engt zugleich ein. Für unsere Entwicklung ist es notwendig, bestehende Fixierungen zu hinterfragen und gegebenenfalls zu lösen. Damit wir diesen Erneuerungsprozess immer wieder vollziehen können, müssen wir in der Lage sein, in den Übergangsphasen Leere, Einsamkeit und Verlassenheit auszuhalten. Therapeutisch gesehen ist die Stabilisierung des Patienten in einer solchen Wandlungsphase von enormer Wichtigkeit. Der Bezug zu sich selbst und die Verankerung im eigenen Wesen (Gefühle, Gedanken, körperliche Empfindungen) können hier einen hilfreichen Boden für die erforderlichen Veränderungen bilden.

3. Dem Schmerz nicht ausweichen: Der Mensch ist ein Erfahrungswesen. Unser ganzes Erleben hat mit Erregungszuständen und Empfindungen zu tun. Manche sind lustvoll, andere sehr schmerzhaft. Indem wir dem Schmerz ausweichen, was nur natürlich ist, bilden wir eine Abwehr gegen unangenehme oder bedrohliche Erfahrungen, die unser Gefühlssystem zu überfluten drohen. Nebst der positiven gibt es auch eine negative Abwehr, die unsere Entwicklung beeinträchtigt. Sie kann sich mit der Zeit zu einem «Nein zum Leben» ausweiten, unsere Handlungsspielräume einschränken und uns regelrecht in Gefangenschaft nehmen. In der Therapie lernt der Klient, anstelle eines solchen Vermeidungs-verhaltens, aktiv Grenzen zu setzen. Oder zu differenzieren zwischen Kindheits¬erfahrungen und aktuellem Geschehen, um sich in der jetzigen Erwachsenensituation angemessen verhalten zu können.

4. Die Selbstablehnung überwinden: Das Bedürfnis, sich zu verwirklichen, ist dem Menschen von Geburt an mitgegeben. Wenn er früher oder später realisiert, dass er nur einen Teil seines Potentials ausschöpfen kann, entsteht ein Grundgefühl von Unvollkommenheit. Dieses wird oft kompensiert durch das Streben nach Perfektion, Leistung, Idealen oder dem Drang nach Macht und Kontrolle. Egal welche Ideale angestrebt werden oder wie sich Betroffene nach aussen präsentieren, bleibt in ihrem Inneren eine Haltung der Selbstablehnung. Dazu kommt eine verborgene Angst, wegen der eigenen Unvollkommenheit von den anderen verachtet zu werden. Solche Menschen bleiben allein, isoliert und in ihrem Dilemma gefangen. Sie leiden doppelt: unter ihrer mangelnden Beziehungsfähigkeit und am Umstand, dass sie die Realität ständig mit einem Idealbild vergleichen oder sogar ignorieren. Beides lässt sie unzufrieden und unerfüllt zurück. Erst wenn sie in der Lage sind, ihr Selbst in seiner Unvollkommenheit und Begrenzung anzunehmen, erfahren sie Offenheit, Akzeptanz, Toleranz und werden wieder beziehungsfähig. Der neue Bezug zur Realität und das Akzeptieren der Endlichkeit ihrer Existenz hilft ihnen, Bescheidenheit und Erfüllung zu erlangen. In der Therapie ist es wichtig, zu verstehen, in welchem existentiellen Dilemma sich solche Klienten befinden und wie notwendig es ist, ihnen einen realen Bezug zu ihrem Dasein zu vermitteln. Die Arbeit am Hier und Jetzt, das Erkennen ihrer physischen, psychischen und emotionalen Realität mit entsprechender Verankerung kann sie auf diesem Weg der Befreiung unterstützen.